Verlassensängste - Patient mit Verlassensangst beim Psychotherapeuten in der Gesprächstherapie (© Paolese / stock.adobe.com)

Verlassensangst: Verlassensängste verstehen und überwinden

Verlassensangst bei Erwachsenen

Niemand möchte einen geliebten Menschen verlieren – sei es durch Trennung vom Partner, sei es durch Tod oder Umzug. Doch bei einigen Menschen ist die Angst vor dem Verlassenwerden besonders stark ausgeprägt. Schon der Gedanke daran, eines Tages möglicherweise verlassen zu werden, ruft bei ihnen Angst und Panik hervor.

Psychoanalytische Erklärung

Der Psychoanalytiker Fritz Riemann bezeichnet die Angst, verlassen zu werden, als eine der vier Grundformen der Angst. Seiner Theorie zufolge haben Betroffene im Grunde genommen Angst davor, auf eigenen Beinen zu stehen und sie selbst zu sein. In der Psychoanalyse wird dies als Angst vor dem Ich-Werden bzw. vor der Individuation gedeutet.

Betroffene überhöhen ihren Partner und machen sich vollständig von ihm abhängig. Laut Riemann führt dieses Muster zu einem depressiven Persönlichkeitstypus, der gekennzeichnet ist durch:

  • Angst vor Trennung und Trennungsschmerz
  • Angst vor Einsamkeit
  • kindlich-hilflose Abhängigkeit
  • altruistische Eigenschaften
  • Unterordnen oder Verdrängen eigener Bedürfnisse
  • Unfähigkeit, Wut und Aggression zu akzeptieren – stattdessen: Unterdrückung oder Umlenkung (z. B. Jammern)
  • Hilflosigkeit gegenüber Gefühlen wie Wut

Die Folgen davon sind neben den Verlassensängsten auch Depressivität, Verzweiflung und Antriebsschwäche (siehe auch Antriebsschwäche bekämpfen). Menschen, die zum depressiven Persönlichkeitstypus neigen, müssen keine klinische Depression entwickeln – sie besitzen jedoch ein erhöhtes Risiko dafür.

Trennungsangst in Beziehungen

Menschen mit Verlassensängsten sehnen sich häufig nach der Geborgenheit und Sicherheit, die feste Beziehungen versprechen. Aus diesem Grund haben sie oft Probleme damit, allein zu sein.

Wenn Menschen mit Verlassensangst in einer Beziehung sind, klammern sie sich oft emotional an ihren Partner. Sie wollen ihm gefallen und ihm Gutes tun. Dieser Wunsch ist für sich genommen in der Liebe völlig normal und sogar wünschenswert. Bei schwerer Verlustangst ist dieser Wunsch jedoch besonders stark ausgeprägt und hat zur Folge, dass eigene Bedürfnisse vernachlässigt werden.

Darüber hinaus ist der Wunsch, den Partner zufriedenzustellen, bei einer trennungsängstlichen Person nicht rein positiv: Es geht nicht ausschließlich darum, das Glück in der Partnerschaft herbeizuführen, sondern der Betroffene versucht vor allem ein negatives Ereignis abzuwenden. Ständig quält den Trennungsängstlichen die Angst verlassen zu werden.

Verlassen werden - die Angst davor haben sowohl Kinder als auch Erwachsene - und oftmals sind gerade Scheidungskinder oftmals mit Problemen im Kontext von Verlassensangst im späteren Leben konfrontiert. (© WavebreakmediaMicro - Fotolia)
Verlassen werden – die Angst davor haben sowohl Kinder als auch Erwachsene – und oftmals sind gerade Scheidungskinder oftmals mit Problemen im Kontext von Verlassensangst im späteren Leben konfrontiert. (© WavebreakmediaMicro – Fotolia)

Die Verlassensangst eines Partners stellt oft eine Belastung für die Beziehung dar. Das Gefühl begünstigt Eifersucht (vgl. krankhafte Eifersucht heilen), mit der der Betroffene oft ebenso wenig umgehen kann wie mit Wut und Aggressivität. Möglicherweise schämt sich der Betroffene sogar für seine Eifersucht: Er befürchtet, dem Partner insgeheim nicht vollkommen zu vertrauen. Das kann dazu führen, dass der Betroffene sich selbst nicht mehr traut und befürchtet, in Wahrheit ein schlechter Mensch zu sein.

Infolge der Angst verlassen zu werden neigen jedoch nicht alle Betroffenen zu Passivität. Einige kontrollieren den Partner heimlich, indem sie seine E-Mails oder SMS lesen. Manche gehen sogar so weit, den Partner zu verfolgen und zu observieren, um zu überprüfen, mit wem sich der Partner trifft. Obwohl Menschen mit Verlustangst gemäß der psychoanalytischen Erklärung Probleme haben, mit Wut umzugehen, können sie dieses Gefühl dennoch empfinden. So kann es zu Eskalationen kommen, die zu Streit oder Gewalt führen.

Auch vom Partner kann eine Eskalation ausgehen, da er sich oft in eine kümmernde elternähnliche Rolle hineingedrängt fühlt. Je nachdem, welche Persönlichkeit der Partner besitzt, besteht darüber hinaus die Gefahr, dass der Trennungsängstliche ausgenutzt wird.

Verlust durch Tod

Verlustängste können sich jedoch auch anders zeigen. Eine weitere Variante besteht in der übersteigerten Angst vor dem plötzlichen Tod des Partners oder anderer Personen (siehe Angst vor dem Tod). Die Angst verlassen zu werden kann sich in beiden Formen gleichzeitig zeigen oder nur in einer Variante.

Auch diese Trennungsängste können dazu führen, dass der Betroffene den Partner oder andere Personen kontrolliert. Im Vordergrund steht dabei, ein Lebenszeichen vom Partner, Freund oder Angehörigen zu erhalten. Einige Betroffene wachen nachts auf und kontrollieren, ob der Partner noch atmet.

Manchmal erleben Trennungsängstliche spontane Panikattacken, bei denen sie ohne konkrete Hinweise befürchten, eine nahestehende Person könnte einen Unfall haben oder in ein anderes Unglück verwickelt werden. Bei Eltern kann sich diese Angst auch auf die eigenen Kinder beziehen.

Ursachen von Verlassensangst

Erwachsene, die unter Trennungsangst leiden, können sich gegenüber anderen Menschen oft nicht durchsetzen. Möglicherweise gab es in ihrem Leben wichtige Ziele, die sie nicht erreicht haben. Dadurch kann eine angeborene Neigung zur Depression und Ängstlichkeit verstärkt werden. Erwachsene, die als Kinder einen unsicheren Bindungsstil hatten, leiden häufiger unter Verlassensängsten als Menschen mit sicherem Bindungsstil.

In der Vermeidung von Ärger und der Hinwendung zur Angst steckt darüber hinaus ein kultureller Aspekt: Ärger gilt als machtvolle Emotion, während Angst eine machtlose Emotion darstellt. Der Psychoanalyse zufolge haben trennungsängstliche Menschen Angst davor, sie selbst zu sein und ein gesundes Maß an Unabhängigkeit zu entwickeln. Die Angst kann in diesem Zusammenhang als unbewusste Ärgervermeidung und damit als Machtvermeidung gedeutet werden.

Einige Betroffene haben einen wichtigen Menschen in ihrem Leben durch Tod oder andere traumatische Ereignisse verloren. Oft erleben sie auch normale Trennungen und Entfremdungen als gravierender als andere Menschen. Trennungsängstliche besitzen oft ein sensibles Gemüt und sind psychisch verletzlich.

Viele Trennungsängstliche haben in ihrer Kindheit nicht gelernt, ihre Gefühle angemessen zu verarbeiten. Einige Betroffene weisen eine hohe Angstsensitivität auf. Den Psychologen Reiss und McNally zufolge handelt es sich dabei um eine Überzeugung, die Angst und ihre Folgen seien für sich genommen schädlich. Im Falle von Trennungsangst kann dies zu einer Angst vor der Angst führen. Die daraus resultierende Vermeidung erhält den Status Quo aufrecht und verhindert, dass der Betroffene die Angst überwinden kann.

Wie verändert Verlassensangst einen Menschen?

Eine starke Angst verlassen zu werden bleibt nicht ohne Folgen für die Psyche. Die tiefe Unsicherheit geht oft mit Minderwertigkeitsgefühlen einher (vgl. Minderwertigkeitskomplexe).

Da Menschen mit Trennungsängsten ihre eigenen Bedürfnisse hintenan stellen, bleiben diese oft unbefriedigt. Dadurch entsteht das Potenzial für weitere Probleme. Manche Betroffenen empfinden Schuldgefühle und Scham, weil sie überhaupt Bedürfnisse verspüren – obwohl eigene Bedürfnisse und Wünschen dem Trennungsängstlichen natürlich ebenso zustehen wie anderen Menschen.

Die Minderwertigkeitsgefühle und die Selbstunsicherheit (vgl. selbstunsichere Persönlichkeitsstörung) können so stark werden, dass Menschen mit Verlassensangst sich paradoxerweise zurückziehen. Sie gehen davon aus, ohne andere Menschen nicht lebenswert oder lebensfähig zu sein, – und untersagen sich selbst als Bestrafung genau das, was sie sich am meisten wünschen.

Verlassensängste und depressive Denkmuster können darüber hinaus eine problematische Kombination bilden. Aus der depressiven Perspektive erscheint alles sinnlos und aussichtslos, was bei einem Menschen mit Verlustangst zur Handlungsunfähigkeit führen kann. Die Verlustängste verschwinden dadurch nicht – der Betroffene ist ihnen weiterhin hilflos ausgeliefert.

Verlassensängste gehen häufig mit Versagensängsten einher. Darüber hinaus können sie gemeinsam mit psychischen Erkrankungen auftreten, vor allem mit:

Insbesondere die Abhängige (dependente) Persönlichkeitsstörung ist ein Ausdruck tief verwurzelter Verlassensängste.

Verlassensängste überwinden

Wie wir gesehen haben, stellen Verlassensängste eine starke Belastung für den Betroffenen und sein Umfeld dar. Doch was kann man gegen die Trennungsängste tun?

Der erste Schritt besteht in der Einsicht, dass die Angst verlassen zu werden irrational und übertrieben ist. Durch ihre Passivität und ihre Unterwürfigkeit verursachen die Betroffenen das Beziehungsende oft selbst – nicht obwohl sie die Trennung fürchten, sondern weil sie diese fürchten. Verlustängste können auf diese Weise zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Das Wissen über diesen Mechanismus ist die Voraussetzung dafür, die Angst zu bekämpfen.

Einer der wichtigsten Tipps lautet: loslassen (siehe Loslassen lernen). Liebe bedeutet nicht, sich vom Partner voll und ganz abhängig zu machen. Stattdessen ist es erstrebenswert, wenn sich beide Partner auf Augenhöhe begegnen und sich ihre Bedürfnisse gegenseitig mitteilen. Offene Gespräche in der Beziehung sind dazu unabdingbar. Oft hilft es, dem Partner die eigenen Ängste zu gestehen und ihn gezielt um Unterstützung zu bitten.

Die Angst verlassen zu werden kann so krankhaft werden, dass sie im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung tatsächlich Auslöser einer Trennung wird. Wer das verhindern will, sollte rechtzeitig die Notwendigkeit einer Psychotherapie prüfen. (© Gina Sanders - Fotolia)
Die Angst verlassen zu werden kann so krankhaft werden, dass sie im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung tatsächlich Auslöser einer Trennung wird. Wer das verhindern will, sollte rechtzeitig die Notwendigkeit einer Psychotherapie prüfen. (© Gina Sanders – Fotolia)

Professionelle Hilfe bei krankhafter Furcht vor einem „Verlassen werden“

Wenn die Angst, verlassen zu werden, das Leben bestimmt oder zu erheblichem Leiden führt und mit anderen psychischen Beschwerden einhergeht, ist in der Regel eine Therapie (Psychotherapie) angebracht. Mit der Unterstützung des Therapeuten erarbeitet der Betroffene die persönlichen Ursachen und bespricht, welche Maßnahmen im Einzelfall helfen können. Auch praktische Übungen können im Rahmen einer Therapie durchgeführt werden; diese sind vor allem bei der Verhaltenstherapie üblich.

Die Psychotherapie dient darüber hinaus der Behandlung von psychischen Krankheiten, die mit den Verlassensängsten eventuell verknüpft sind. Eine Therapie bedeutet harte Arbeit. Sich seinen Ängsten zu stellen, ist sehr unangenehm und kann den Wunsch auslösen, das bekannte Übel einer unbekannten Zukunft vorzuziehen. Letztlich hilft die Bearbeitung von schwierigen Themen und Gefühlen jedoch, dieses Übel zu bewältigen.

Bei schweren Verlustängsten ist die Behandlung bei einem approbierten Psychotherapeuten (ärztlicher Psychotherapeut, psychologischer Psychotherapeut) zu empfehlen. Bei milderen Ausprägungen kommt auch ein Heilpraktiker für Psychotherapie oder ein psychologischer Berater in Betracht. Bei milderen Formen erweisen sich auch „alternative“ Verfahren mitunter bereits als erstaunlich hilfreich, siehe exemplarisch z.B. die Klopftechnik gegen Angst  und Kinesiologie. Auch Hypnotherapie und die EMDR-Methode können eine Hilfe sein.

Psychohygiene

Genauso, wie der Körper gewaschen und gepflegt werden muss, benötigt auch die Psyche eine gewisse Pflege (vgl. Psychohygiene betreiben). Niemand möchte gern verlassen werden. Doch Trennungsängstliche verlieren sich oft in den Bedürfnissen von anderen Menschen. Deshalb ist es wichtig, einen Ausgleich zu schaffen.

Betroffene können Selbstliebe üben, indem sie sich Zeit für sich nehmen. Ideal ist es, wenn sie sich dafür einen festen Termin von mindestens einer Stunde am Stück reservieren. Diese Zeit kann völlig frei gestaltet werden:

  • ein warmes Bad nehmen
  • eine Gesichtsmaske auflegen
  • Entspannungsübungen (autogenes Training, progressive Muskelrelaxation)
  • die eigenen Gefühle in einem Bild ausrücken
  • zu entspannender Musik tanzen
  • ein Buch über Selbstliebe lesen
  • eine Fantasiereise machen, auf der die eigenen Wünsche erkundet werden
  • meditieren, zum Beispiel mit einer Anleitung auf Youtube

Darüber hinaus sollten sich Menschen mit Verlassensangst Zeit für eigene Hobbys und Unternehmungen ohne den Partner einräumen. Dazu ist es oft erforderlich, vernachlässigte Freundschaften zu reaktivieren oder neue Bekanntschaften zu machen.

Angst verlassen zu werden – Quellen und weiterführende Literatur

  • Petia Genkova, Tobias Ringeisen & Frederick T. L. Leong (Hrsg.): „Handbuch Stress und Kultur. Interkulturelle und kulturvergleichende Perspektiven“. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2013.
  • Tina In-Albon & Jürgen Margraf: „Panik und Agoraphobie“. In: Hans-Ulrich Wittchen & Jürgen Hoyer: „Klinische Psychologie und Psychotherapie“, S. 319–335. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag, 2001.
  • Jürgen Margraf: „Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 2: Störungen im Erwachsenenalter – Spezielle Indikationen – Glossar“. Heidelberg: Springer Medizin, 2009.
  • Fritz Riemann: „Grundformen der Angst“. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag, 2011.
  • Paul Watzlawick: „Anleitung zum Unglücklichsein“. München: Piper, 2013.

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