Komorbiditäten: Oft enthält die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht nur eine Krankheitsdiagnose, sondern mehrere Symptomatiken treten parallel auf. Dann spricht man von Komorbiditäten. (© Stockfotos-MG / stock.adobe.com)

Komorbidität – was heißt das? Und: Komorbiditäten psychischer Erkrankungen

Bei manchen psychischen Erkrankungen – aber auch bei Erkrankungen, die nicht in diesen Bereich fallen – kennen die Mediziner sogenannte Komorbiditäten. Per Definition sind damit bestimmte Folge- bzw. Begleiterkrankungen gemeint, die im Zuge einer anderen Erkrankung häufiger auftreten. Bei einer Borderline Erkrankung oder einer Zwangsstörung treten beispielsweise häufig auch andere psychische Störungen oder körperliche Krankheiten auf. Dass es hier Zusammenhänge gibt, belegen neue Studien.

Drei Hypothesen – und die Frage nach dem Huhn und dem Ei

Offen bleibt bisher die Frage, welche der offensichtlich zusammengehörenden Erkrankungen zuerst auftraten. Mit dieser Frage befassen sich drei Hypothesen. Diese sollen nun am Beispiel von Depressionen und Rückenschmerzen als Komorbidität erläutert werden.

  1. Die „Antecedent-Hypothese“ vertritt die Ansicht, dass eine Depression nach ihrem Auftreten chronische Rückenschmerzen auslösen kann.
  2. Die „Consequence-Hypothese“ meint aber, dass die Rückenschmerzen erst die Depression ausgelöst haben könnten.
  3. Die „Scar-Hypothese“ verfolgt hingegen das „Vulnerabilitäts-Stress“-Modell. Demnach soll die Komorbidität der Depressionen darauf zurückzuführen sein, dass es bereits vor dem Auftreten der Rückenschmerzen eine depressive Episode gegeben haben könne.

Mit dieser vorübergehenden depressiven Episode sei die Wahrscheinlichkeit erhöht, nach der Chronifizierung der Rückenschmerzen erneut depressiv zu werden – dieses Mal allerdings behandlungsbedürftig. Die Chronifizierung der Rückenschmerzen sei somit ohne die vorangehende depressive Episode nicht denkbar. Denkbar sind alle Hypothesen – doch nachgewiesen ist bisher die Richtigkeit keiner.

Quellen:

  • https://de.wikipedia.org/wiki/Komorbidit%C3%A4t
  • https://www.infodrog.ch/de/wissen/praeventionslexikon/komorbiditaet.html
  • https://www.caritas.de/glossare/komorbiditaet
  • https://www.youtube.com/watch?v=sJnU24IryoQ

Welche Erkrankung ist nun die Leiterkrankung?

Als Haupterkrankung wird per Definition stets die Erkrankung angesehen, die sich akut in Behandlung befindet. Diese Krankheit oder Störung muss jedoch nicht unbedingt zeitlich vor den damit zusammenhängenden Komorbiditäten entstanden sein. Da es sich nicht nur um eine Komorbidität handeln kann, sondern gleich mehrere Begleiterkrankungen vorliegen können, wurde ergänzend der Begriff der „Multimorbidität“ geprägt. Die Grunderkrankung wird dann als „Indexerkrankung“ bezeichnet.

Um die Sache nochmals zu verdeutlichen, hier beispielhaft zwei bekannte Komorbiditäten: Patienten mit einer Alzheimer-Demenz leiden gehäuft auch an Gichtbeschwerden. Männer mit Prostatakrebs erkranken auffallend oft auch an Diabetes mellitus. Die Behandlung beider Erkrankungsbilder erfolgt unabhängig von deren Entstehungszeitpunkt. Der behandelnde Arzt muss jedoch mit dem Wissen um eine mögliche Komorbidität Fragen nach eventuellen Begleiterkrankungen stellen. Oft geschieht das jedoch nicht.

Da bei Menschen mit Darmkrebs bis zu fünf Komorbiditäten auftreten können, muss die Therapie auf die Gesamtheit aller vorliegenden Erkrankungsbilder abgestellt werden. Ansonsten wäre das Überleben von Darmkrebs-Patienten mit Komorbiditäten nicht verlängerbar. Die Relevanz von Begleiterkrankungen ist damit hinreichend belegt.

Quellen:

  • https://de.wikipedia.org/wiki/Komorbidit%C3%A4t
  • https://flexikon.doccheck.com/de/Komorbidit%C3%A4t
  • https://www.leukaemie-online.de/38-cml/1049-die-bedeutung-von-zweiterkrankungen-bei-cml
  • https://www.diabsite.de/aktuelles/nachrichten/2012/121127.html

Komorbiditäten bei psychischen Erkrankungsbildern

Im Bereich psychischer Störungen sind Komorbiditäten bzw. Mehrfachdiagnosen besonders häufig zu finden. Bei Menschen mit einer Sucht (Definition Sucht) finden sich beispielsweise häufig Erkrankungsbilder wie depressive Episoden, Zwangsstörungen sowie Angst- und Panikstörungen. Werden die Komorbiditäten bei der Behandlung der Sucht nicht berücksichtigt, ist ein Rückfall in die Sucht wahrscheinlicher. Ob die Begleiterkrankung nachfolgend oder anfänglich und damit suchtauslösend entstand, ist nicht so wichtig.

Daraus folgt: Wenn psychische und körperliche Erkrankungsbilder gemeinsam entstehen oder aufeinander folgen, müssen stets beide behandelt werden. Begleiterkrankungen mindern nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen. Sie blockieren auch die erfolgreiche Behandlung der psychischen Grunderkrankung. Zudem erhöhen nicht behandelte Komorbiditäten die Wahrscheinlichkeit, eher an dem komplexen Erkrankungsbild zu versterben.

Ob eine Angsterkrankung immer in die Sucht, oder die Sucht immer in eine psychische Störung führen wird, ist dabei zweitrangig. Wichtiger ist die Erkenntnis, dass die Rückfallquote gesenkt werden kann, wenn die Komorbidität als Minimum in der Nachsorge eines Entzuges vom Suchtmittel berücksichtigt wird.

Quellen:

  • https://de.wikipedia.org/wiki/Komorbidit%C3%A4t
  • https://www.thieme.de/de/psychiatrie-psychotherapie-psychosomatik/komorbiditaeten-werden-unterschaetzt-104202.htm
  • https://www.barmer.de/blob/71060/caf86257d75b861dda2dc4d1b140bbb9/data/sucht-komorbiditaet-und-psychotherapeutische-behandlung.pdf
Komorbidität Definition laut Wikipedia (Screenshot https://de.wikipedia.org/wiki/Komorbidit%C3%A4t)
Komorbidität Definition laut Wikipedia (Screenshot https://de.wikipedia.org/wiki/Komorbidit%C3%A4t)

Warum kommt es überhaupt zu Komorbiditäten?

Wie bereits angedeutet, spielt es anscheinend keine Rolle, ob die körperlichen oder die psychischen Erkrankungsbilder zuerst auftraten. Vielmehr ist für den behandelnden Mediziner relevant, welche Erkrankungsbilder derzeit behandlungsbedürftig sind, und welche eine Komorbidität aufweisen, die als häufig vorkommend bekannt ist. Trotzdem werden Komorbiditäten bis heute unterschätzt.

So werden beispielsweise bei Menschen, die wegen eines schweren organischen Erkrankungsbildes in Behandlung sind, die damit auftretenden psychischen Störungen meist stiefmütterlich behandelt. Oft werden sie nicht einmal abgefragt. Dabei ist seit Jahrhunderten bekannt, dass alle seelischen Erkrankungsbilder Entsprechungen im Körper der Betroffenen finden. Gleichermaßen erzeugen körperliche Krankheiten häufig eine Resonanz-Störung in der Seele. Diese Erkenntnis war eine der Grundlagen für die Entwicklung der Psychosomatik.

Trotzdem ist oft nicht gesichert, dass Patienten, die sich wegen einer Depression in Behandlung begeben haben, richtig behandelt werden. Fakt ist: Depressive können nicht ohne weiteres mit Psychopharmaka behandeln werden, wenn zugleich eine Herzinsuffizienz als Komorbidität vorliegt. Die Betrachtung der Komorbidität hat also – unabhängig von der Frage, was nun die Indexerkrankung und was die Komorbidität ist – für die Behandlung eine hohe Relevanz.

Bekannt ist, dass mehr als die Hälfte aller psychisch kranken Menschen eine Komorbidität aufweisen. Oft sogar mehrere. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass die Folge- oder Begleiterkrankungen ähnlichen Kategorien im ICD10 zugeordnet werden können.

Beispielsweise leiden Betroffene zeitgleich an einer sozialen Phobie und Platzangst – also zwei Angsterkrankungen. Es kann aber genauso vorkommen, dass eine seelische und eine körperliche, oder zwei ganz unterschiedliche Erkrankungsarten eine Komorbidität bilden.

Im Bereich der psychischen Erkrankungen treten Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen oft zusammen auf. Das ist noch nachvollziehbar. Eine Diagnose wie eine mittelgradige depressive Episode (F 32.1 g), eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) oder eine akute Belastungsreaktion (F43.0) wären ebenfalls nachvollziehbar. Treten jedoch Diabetes und eine Schilddrüsenerkrankung, Hautveränderungen, Parodontose, Depressionen oder Krebs­erkrankungen als Komorbiditäten auf, ist weniger nachvollziehbar, warum das so ist.

 

An der „Duke University“ ist man der Frage nach der Häufung von Komorbiditäten nachgegangen. Die Forscher suchten nach einem gemeinsamen, verbindenden Faktor, der bisher übersehen wurde. Die Untersuchung beinhaltete Befragungen und Gehirn-Scans von 1.246 freiwilligen Probanden, die psychische Störungen oder andere Krankheitsbilder aufwiesen. Ein erhöhter „P-Faktor“ sollte dabei auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit zu einer Komorbidität hinweisen.

Tatsächlich war das auch oft der Fall. Der Hirn-Scan zeigte bei ausgeprägter Tendenz zu einer Komorbidität auffällige Veränderungen – allerdings nicht in den erwartbaren Bereichen. Der Schluss aus der Studie: Möglicherweise haben bestimmte Kommunikationskanäle im Gehirn etwas mit dem Entstehen einer Komorbidität zu tun. Bei dieser Schlussfolgerung handelt es sich aber lediglich um eine These. Diese These besagt: Es gibt Indizien dafür, dass bei gemeinsam auftretenden psychischen Krankheiten möglicherweise bestimmte neuronale Gegebenheiten vorliegen.

Diese Gegebenheiten könnte man zukünftig möglicherweise beeinflussen, um die Krankheitsursache zu beheben. Damit wäre weit mehr gewonnen, als mit symptomatischen Behandlungsansätzen. Fakt ist, dass die Behandlung einer Schizophrenie, von Borderline Syndromen oder einer Psychose weiterhin schwierig bleibt. Das liegt nicht nur an den vorliegenden Begleiterkrankungen, sondern in der Natur der psychischen Störung selbst.

Selbst neurotisches Verhalten könnte der Studie zufolge auf bestimmte Gegebenheiten im Kleinhirn zurückzuführen sein. Die Bedeutung solcher Studien kann daher gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Quellen:

  • thieme.de/de/psychiatrie-psychotherapie-psychosomatik/komorbiditaeten-werden-unterschaetzt-104202.htm
  • spektrum.de/news/uebersehene-gemeinsamkeit-von-psychischen-stoerungen/1449529
  • ubt.opus.hbz-nrw.de/opus45-ubtr/frontdoor/deliver/index/docId/545/file/Dissertation_KKAck.pdf

Ein neuer Blick auf das Themas Komorbidität

Mediziner wissen, dass beispielsweise bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) nicht nur eine Lungenerkrankung vorliegt. Das führt zu einer neuen Definition der COPD und einer veränderten Bedeutung bestehender Behandlungsansätze. Bei einer großen Beobachtungsstudie an 1.664 Probanden wurden binnen 51 Monaten sagenhafte 79 mögliche Komorbiditäten gefunden.

Während der Nachbeobachtungen starben 671 der beobachteten Patienten. Bei 82 Prozent der Verstorbenen erwiesen sich die festgestellten Komorbiditäten als Ursache ihres Todes. Unter den 79 potenziell möglichen Begleiterkrankungen traten 15 signifikant häufiger auf als alle anderen. Als Folge der Studie konnte ein Komorbiditäts-Test (der sogenannte COTE-Index) entwickelt werden.

Jetzt wäre es möglich, bei Menschen mit Borderline Störungen, Schizophrenie, einer Psychose oder Zwangsstörung die Wahrscheinlichkeit einer Komorbidität festzustellen. Damit wäre eine neue Definition der meisten Erkrankungsbilder möglich und notwendig. Die Zusammenhänge zwischen bestimmten Krankheiten sind offensichtlich viel komplexer, als es bisher scheint. Möglicherweise wäre mancher Pulsaderschnitt in der Zukunft vermeidbar.

Die Frage, ob Citalopram ja oder nein, muss vielleicht zukünftig anders gestellt werden. Freie Antidepressiva alleine stellen mit Blick auf die Komorbiditäts-Problematik oft keine sachgerechte Behandlungsstrategie dar. Wenn das Dopamin zu hoch ist, kann das mehr als eine Störung oder Krankheit auslösen. Wenn ein Benzodiazepinabusus vorliegt, sollte nach Begleit-Krankheiten geschaut werden. Die Definition vieler Krankheitsbilder muss möglicherweise um die häufigsten Komorbiditäten erweitert werden.

Die Komorbiditäten für eine mittelgradige depressive Episode (F 32.1 g), eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) oder eine akute Belastungsreaktion (F43.0) müssen betrachtet werden. Wenn sich jemand mit einer Zwangserkrankung oder Panikattacken selbst einweist, muss das Gesamtbild aller Störungen angesehen werden. Die Behandlung körperlicher oder psychischer Krankheitsbilder muss wieder ganzheitlicher werden. Die rein symptomatische Therapie hat sich angesichts neuer Erkenntnisse als zu einseitig und kurzsichtig erwiesen.

Quellen:

  • https://www.youtube.com/watch?v=-9_f-N0BKUo
  • https://www.aerzteblatt.de/archiv/168389/COPD-Nicht-nur-eine-Lungenerkrankung
  • https://www.springermedizin.de/komorbiditaeten-bei-copd/8039158
  • https://content.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/media_files/representation/zd_std_orig__zd_schw_orig/011/304/936/9783642224690_content_pdf_1.pdf
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Ganzheitliche_Medizin
  • https://www.praktischarzt.de/blog/ganzheitliche-medizin/

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